Unter der Überschrift „Riskante Toleranz – Moralgesättigt und gefährlich attraktiv“ nimmt Doktor phil. habil. Wilhelm Heitmeyer, Professor für Sozialisation an der Universität Bielefeld, Stellung zu einem Thema, das er als Problem ansieht, auch wenn das manchem Science-Fiction-Fan im ersten Moment nicht einleuchten will. Seit Gene Roddenberry seine Philosophie für „Star Trek“ formulierte und sie in dem relativ einfachen Satz „Infinite Diversity in Infinite Combinations“ – kurz IDIC oder UMUK (für Deutsch „Unendliche Mannigfaltigkeit in unendlichen Kombinationen“) – zusammenfasste, war das Schlagwort „Toleranz“ aus diesem Universum nicht mehr wegzudenken. Viele Fans saugten diese Idee buchstäblich auf und erklärten, so wie man in „Star Trek“ gegenüber Außerirdischen tolerant sei, wollen auch sie tolerant gegen andere Menschen sei, damit sich die Vision Gene Roddenberrys von einer friedlichen Zukunft der Menschheit schließlich erfüllen sollte.
Leider endete diese Toleranz meist schon dann, wenn jemand anderes offen zugab, Fan von einer anderen Science-Fiction-Serie zu sein. Berühmt-berüchtigt waren in den 1990er Jahren die verbalen Schlachten zwischen Fans von „Star Trek“ und „Star Wars“, die es – zumindest nach der IDIC-Philosophie – so eigentlich nicht hätte geben dürfen. Eigentlich hätten die „Star Trek“-Fans sagen müssen: „Wir sind nicht Eurer Meinung, aber wir akzeptieren sie.“ Immerhin ging es hierbei um kein gesellschaftliches Ding, sondern um eine Frage des Geschmacks; wer „Star Wars“ vorzog, wünschte also mit Sicherheit nicht, dass es irgendwann in ferner Zukunft einmal eine galaktische Diktatur geben sollte, die von einem übelgelaunten Imperator und seinem Handlanger im schwarzen Anzug kontrolliert wurde.
Interessanterweise hatte Gene Roddenberry in seinem Konzept zu „Star Trek“ festgelegt, dass es in der Zukunft keine Religionen mehr geben sollte. Er war der Meinung, Religion behindere den Menschen, sich weiter zu entwickeln. Und nun waren es die Fans seiner Idee, die diese verteidigten, als wäre sie eine Religion und jedes Widerwort ein Sakrileg. Gleichzeitig machten sie sich, indem sie sich hinter Roddenberrys Philosophie verschanzten, unangreifbar. Immerhin stand „Star Trek“ für Toleranz, allein schon deswegen glaubten viele Fans, die Serie und sie selbst wären besser als andere. Auf die gleiche Weise pervertierten die Kreuzritter die Gedanken von Nächstenliebe und dem Gebot „Du sollst nicht töten“, als sie um 1095 auf den ersten Kreuzzug nach Jerusalem gingen und das Massaker, das sie dabei anrichteten, mit der – heute wenig glaubhaften – Ausrede rechtfertigten, nur einen Christen zu töten sei Sünde, bei „den Anderen“ sei das was ganz anderes (in einer kritischen Dokumentation über die Kreuzzüge wurde das in dem Satz zusammengefasst: „Sichern auch Sie sich einen Platz im Himmel, indem Sie einen Heiden in die Hölle schicken!“)
In seinem Vortrag über Toleranz beginnt Doktor Heitmeyer gleich etwas provokant, indem er Toleranz als Problem darstellt. Er reicht auch gleich die Begründung nach, denn „Toleranz“ an sich ist undefiniert und wird international sehr unterschiedlich aufgefasst. Dadurch wird Toleranz nicht zur Lösung irgendwelcher Probleme, sondern zum Teil des Problems selbst. Wie weit muss ich denn die Ansichten und Lebensweisen des anderen tolerieren? Muss meine Toleranz so weit gehen, dass ich es nicht einmal mehr wage, bestimmte Ausprägungen einer Religion oder anderen Weltanschauung zu kritisieren, auch wenn ich sie für falsch halte?
Auf der anderen Seite gäbe es noch ein Problem, so Heitmeyer weiter, denn Toleranz sei etwas sehr unsymmetrisches, und damit trifft er leider auch eine Schwachstelle in Roddenberrys Idee. Diese lautet nämlich „wir Menschen sind tolerant den Außerirdischen gegenüber“. Es gibt also eindeutig eine Fraktion, die in der stärkeren Position ist, und nur diese kann sich Toleranz erlauben. Der Schwache kann gegenüber dem Starken nicht tolerant sein, denn Toleranz würde bedeuten, dass es eine Wahlmöglichkeit gibt. Der Schwache kann aber gar nichts entscheiden, er kann sich nur vor dem Stärkeren ducken.
Ein weiteres Problem fasst Heitmeyer so zusammen: Unter dem Deckmantel der Toleranzforderung schlummere gleichzeitig die kommunikationslose Intoleranz gegenüber jenen, die die einseitig aufgestellten Moralanforderungen nicht erfüllen können oder wollen. Damit lägen Toleranzmoral und Intoleranz dicht beieinander. Das führt uns in die Zone der Psychologie, die uns erklärt, warum sich ein Mensch trotzdem als „moralisch hochstehend“ betrachten kann. Es gibt nämlich einen Regelkreislauf im menschlichen Gehirn, der immer dann, wenn ein Mensch für ein Problem eine Lösungsstrategie gefunden hat, Glückshormone ausschüttet. In dem Leben, das unsere Vorfahren geführt haben, hatte das einen durchaus positiven Effekt, nämlich dass erfolgreiche Problemlösungen ein Glücksgefühl auslösten, dass der Mensch wieder erleben wollte und deswegen die erfolgreiche Strategie mehrfach anwandte und weiter entwickelte. Vermutlich war der erste Mensch, dem es gelungen war, einen Haufen von anderen Menschen so zu koordinieren, dass sie gemeinsam ein Mammut jagen und erlegen konnten, in dem Moment, da das Mammut tot zu Boden sank und die Nahrung für einige Zeit gesichert war, der glücklichste Mensch auf dem Planeten.
Das Problem ist, dass der moderne Mensch in der Lage ist, sich selbst auszutricksen. Um es mit den Worten des Zukunftsforschers Matthias Horx zu sagen, der Mensch kassiert die Schokolade, ohne die Aufgabe zu lösen. Bei komplexen Vorgängen ist eine komplexe Lösung notwendig. Doch der Mensch kann sich eine einfache Erklärung zurecht legen, die irgendwie passt, und ist trotzdem glücklich. Dieser Mechanismus hat schon viele Menschen ins Verderben geführt. In den 1920er Jahren gab es eine Weltwirtschaftskrise, die viele Menschen, die davon betroffen waren, nicht verstanden. Dann kam jemand daher und brüllte ihnen besonders laut in die Ohren, die Juden seien an allem Schuld – und die Menschen waren glücklich. Sie hatten ihren inneren Erfolgs-Belohnungs-Regelkreislauf überlistet und waren bereit, dem Mensch zu folgen, der ihnen diese Erkenntnis gebracht hatte. Genauso funktionieren auch andere einfache Parolen wie „Kein Blut für Öl“ oder „Männer sind Schweine“.
Und auch der scheinbare Widerspruch zwischen der Toleranzmoral, die nahe bei der Intoleranz liegt, funktioniert so. „Ich bin doch tolerant – nur die anderen sind es nicht!“, so lautet das Credo der Leute, die sich selbst betrügen und dabei noch gut fühlen. „Diese Welt ist sooo schlecht, aber ich nicht, denn ich bin tolerant!“ Besonders unbedachte Menschen benutzen in solchen Situationen gerne auch Sätze wie „Ich mag Dich / Leute wie Dich / Dein Volk trotzdem!“ Trotzdem? Trotz was? Durch diese Wortwahl impliziert man ja bereits, das der andere etwas hat, das man eigentlich als Makel ansehen würde – man findet ihn aber trotzdem nett. Das ist keine Toleranz im Sinne der „Anerkennung“, sondern bestenfalls eine „Duldung“.
Und um nochmal zu der Problematik zurück zu kommen, wie weit Toleranz gehen muss, so läuft man in ein Problem hinein, dass sich sehr deutlich am Widerstand der deutschen Bevölkerung gegen den Einmarsch der Amerikaner im Irak zeigte. Menschen, die es wagten, Präsident Bush und seine Politik offen zu kritisieren und ihn aufforderten, von seinen Plänen Abstand zu nehmen, wurden von einigen politischen Kräften sehr schnell mit dem Ettikett „Anti-Amerikanisch“ versehen. Unter „Anti-Amerikanisch“ verstehe ich solche dummen Plattitüden, die mit der Einleitung „Alle Amerikaner sind…“ beginnen. Nun, auch wenn es in der Diskussion solche Stimmen gab, viele setzten sich jedoch ernsthaft damit auseinander, was Bush da trieb und ihnen ging es nur darum, dass er es nicht tun sollte. Die Gegner solcher Ansichten beschworen, dass „die Amerikaner“ unsere Freunde seien, unsere Verbündeten, mit denen könne man nicht so umspringen.
Warum nicht? Sicher, ich kann den Amerikanern nicht vorschreiben, so wie in Europa zu leben, aber muss ich deswegen alles tolerieren, was sie tun? Und da ist es wieder: Toleranz. Muss ich unkritisch gegenüber anderen werden, nur weil ich tolerant sein möchte? Auch wenn ich dabei riskiere, dass Unrecht geschieht oder Dinge schieflaufen? Eigentlich nicht, denn mit dieser fatalen Toleranz schiebe ich unter Umständen die Gruppe, die ich toleriere, in eine Opferrolle und erreiche dabei, dass die Mitglieder dieser Gruppe sich selbst und ihrer Lebensweise gegenüber völlig unkritisch werden. Schließlich sind sie ja die armen Opfer, die man einfach tolerieren muss!
Außerdem erleben solche Gruppe ein Höchstmaß an Indifferenz. „Die Amerikaner“ sind unsere Freunde. Wer sind den „die Amerikaner“? Ich kenne ein paar Amerikaner und würde sie als gute Freunde bezeichnen. George W. Bush hingegen ist nicht mein Freund. Die Indifferenz sorgt dafür, dass das Fehlverhalten von Individuen in einer Gruppe kaum oder auch gar nicht mehr korrigiert werden kann, einfach nur weil sie dieser Gruppe angehören. Das ist fast schon sowas wie eine negativierte Intoleranz, nicht „die (Bevölkerungsgruppe) ist an allem schuld“, sondern „die (Bevölkerungsgruppe) ist immer unschuldig“. Das berühmteste Beispiel dieser Richtung führt uns in die unsägliche „Multi-Kulti-Diskussion“, bei der es ebenfalls in weiten Teilen um falsch verstandene Toleranz geht. Es gibt Menschen, die als Flüchtlinge, die in unser Land kommen in der Hoffnung, dass sie hier ein besseres Leben haben, und das ist ihr gutes Recht – aber muss ich es deswegen tolerieren, dass einzelne Individuen sich hier in kriminelle Machenschaften verwickeln? Nein, natürlich nicht, genausowenig wie ich von den Untaten Einzelner auf eine ganze Gruppe schließen darf.
Leider haben einige Science-Fiction-Fans die Philosophie von der Toleranz so absolut aufgefasst, wie sie nicht gemeint sein kann. Sie haben sich selbst erhoben, sich besser gefühlt als „die Anderen“, aber sie waren so großzügig und haben sie… na ja…. mehr oder minder toleriert.
Am Schluss seines Vortrags fragt Heitmeyer nach Alternativen und benennt die „Anerkennung“. Anerkennung, so stellt er fest, setze voraus, dass man sich mit dem Anderenauseinander gesetzt habe. Man muss seine eigene Position sehr klar kennen und versuchen, sich in den Anderen hinein zu versetzen, um schließlich entweder eigene Ansichten zu korrigieren oder sie klar gegenüber dem Anderen zu vertreten. Toleranz ist vielfach einfach Desinteresse. Ich muss mich nicht mit dem Anderen befassen, denn ich toleriere ihn ja. Reicht das nicht?
Nein.
Letzen Endes können uns die Geschichten um Toleranz oder Anerkennung in den Science-Fiction-Geschichten nur eine Richtung weisen. Wir selbst haben die anstrengende Aufgabe, aus einer indifferenten Toleranz eine sehr differenzierte Anerkennung zu machen. Das ist mit Mühe verbunden, und deswegen gehen vielleicht auch so viele den Weg der Toleranz, der ist einfacher. Und damit kann ich mit einer (leicht abgewandelten) Philosophie aus „Star Wars“ enden:
„Ist Toleranz denn stärker?“
„Nein! Leichter! Einfacher! Verführerischer!“