Der allmächtige "Canon"

Unter dem englischen Begriff „canon“ versteht man im Deutschen das – nur wenig veränderte – „Kanon“. Eigentlich ist damit ein Plan gemeint (zum Beispiel ein Lehrplan), in der Typografie ist es ein veraltetes Maß für Schriftgrößen. In modernen Zeiten von Serien bezeichnet man aber noch etwas mit diesem Begriff, und zwar den Hintergrund einer Serie. Der Kanon soll dafür sorgen, dass zwischen einzelnen Episoden einer Serie keine Ungereimtheiten entstehen, dass zum Beispiel eine Hauptfigur in einer Folge erzählt, sie sei ein Einzelkind – und zwei Folgen später erhält sie plötzlich Besuch von ihrem Bruder.

Je komplexer ein Serienbau wird, desto schwieriger wird die Sache mit dem Kanon. Bei STAR TREK beispielsweise ging man deswegen schon einen radikalen Weg. Ich erinnere mich noch an meinen Besuch auf der „Federation Con 2“ 1994. Dort war Richard Arnold zu Gast, Experte in Sachen „Star Trek“. In einer Fragestunde wollte ein Fan etwas über das Verhältnis zwischen William Riker und Deanna Troi wissen (zur Erinnerung: Zu dem Zeitpunkt lief STAR TREK TNG noch, DS9 hatte gerade begonnen). Arnold hakte nach, was genau sie denn wissen wolle, und sie begann, von dem Buch „Imzadi“ zu erzählen, das die Affaire zwischen Riker und Troi etwas genauer beleuchtete als dies in der Fernsehserie der Fall gewesen war. An diesem Punkt unterbrach Richard Arnold den weiblichen Fan: „Vergesst die Bücher!“, sagte er. „Die Bücher haben nichts mit der Show zu tun, außer dass sie auf ihr basieren.“ Er führte weiterhin aus, es gäbe über 200 Bücher zu STAR TREK, man könne es nicht schaffen, dass die alle reibungslos miteinander funktionieren – oder mit der Show selbst. Er zitierte dann Gene Roddenberry, der offenbar einmal gesagt hatte: „Was in der Show passiert, ist Fakt – was in den Büchern passiert, ist Fiktion.“
Bei STAR TREK hatte man es also aufgegeben, den Kanon auf die Bücher zu erweitern. Man hielt sich damit alle Optionen offen, denn wie „Imzadi“, so nahmen sich einige Bücher einiger Dinge an, die in der Serie nur kurz erwähnt wurden. Allerdings konnte es auch sein, dass Drehbuchautoren späterer Folgen oder Filme sich des Themas annehmen wollten – und die wollten natürlich nicht an ein Romanskript gebunden sein. Bestes Beispiel hier ist der Roman „Sie kamen von fremden Sternen“, der vom ersten Kontakt mit den Vulkaniern berichtet. Das Thema wurde in „STAR TREK – Der erste Kontakt“ neu aufgenommen.
Sich an den TV-Serien-Kanon zu halten, war den Leuten schon schwer genug, wenngleich es bei STAR TREK einen ganzen Stab gab, der sich um die Details kümmerte (wie etwa Michael Okuda um die Technik). Also versuchte man es bei den Romanen erst gar nicht.

Das genaue Gegenteil war – zumindest eine Zeitlang – STAR WARS. George Lucas verlangte, dass alles, was offiziell unter dem Namen „Star Wars“ vertrieben wurde, auch in den Kanon passte. Das ging so weit, dass der „European Star Wars Fanclub“ zu dem Zeitpunkt, als er zum „Official Star Wars Fanclub“ wurde, in seinem Magazin keine Fangeschichten mehr abdruckte. Warum? Weil der Club „official“ geworden war, das heißt, alles, was in seinem Magazin abgedruckt wurde, musste dem Kanon entsprechen. Das hätte aber bedeutet, dass jede Fangeschichte, die man hätte abdrucken wollen, erst ins Englisch übersetzt und nach USA hätte geschickt werden müssen, wo sie überprüft worden wäre, ob sie in den „Kanon“ passt. Erst wenn aus den USA das „Okay“ gekommen wäre, hätte sie abgedruckt werden dürfen. Für Fangeschichten wäre das ein ziemlicher Aufwand gewesen.
Aber auch hier kam ein Bruch. Wer die ursprüngliche Romanfassung des Films „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ liest, wird feststellen, dass Obi-Wans Geist Luke erzählt, Owen Lars (der Feuchtfarmer, bei dem Luke aufgewachsen ist) sei sein eigener Bruder gewesen. Außerdem erzählt er, Anakin Skywalker sei in eine Schmelzgrube gestürzt und deswegen so grausam entstellt. Und in der offiziellen Fortsetzung „Erben des Imperiums“ von Timothy Zahn behauptet Mara Jade gegenüber Luke, dass Darth Vader seinen Arm verloren habe, sei die Strafe des Imperators für den Verlust des ersten Todessterns gewesen. Im gleichen Buch wird auch erzählt, die Klone, die in den Klonkriegen als Soldaten verwendet wurden, seien geistig instabil gewesen und deswegen später nicht mehr verwendet worden.
Dann kamen die Prequel-Filme. Owen Lars entpuppte sich tatsächlich als Anakins Halbbruder und machte es plausibel, warum Luke ihn „Onkel Owen“ nannte. Anankin verlor beide Arme, bevor er in die schwarze Rüstung gesteckt wurde. Er stürzte nicht in eine Schmelzgrube, sondern zog sich „nur“ schwere Verbrennungen zu. Was die Klone betrifft, so wurde sogar angedeutet, dass diese selbst 20 Jahre später noch vom Imperium benutzt wurden. Und davon, dass bestimmte Jedi-Meister – wie der in „Erben des Imperiums“ auftauchende Jorus (auch Joruus) C’Baoth – geklont worden seien, weiß man in den Prequels nichts.
Auch bei STAR WARS hat man sich mittlerweile von dem auf alle Medien bezogenen Kanon verabschiedet.

Jemand, der gar nichts von einem Kanon hielt, war offenbar Douglas Adams. Als er „Per Anhalter durch die Galaxis“ schrieb, spielte er mit dem jeweiligen Medium, für das er schrieb. Die erste Variante der Geschichte war ein Radiohörspiel in mehreren Fortsetzungen. Als er dieses in die berühmten „Anhalter“-Romane umarbeitete, veränderte er bewusst die Geschichte, ließ manches weg und fügte manches neues hinzu oder Teile neu zusammen. Als die BBC dann Anfang der 1980er eine Kurzserie produzierte, wurden wieder Teile verändert und neu zusammengesetzt. Und bei dem 2005 in die Kinos gekommenen Film wurden wiederum Teile verändert, neu geschrieben und neu zusammengesetzt (man denke nur an John Malkovichs Auftritt als „Humma Kavula“, eine Figur, die ausschließlich im Kinofilm zu sehen ist und ihm auf den Leib geschrieben wurde).

Der Kanon – geliebt und gehasst. Dadurch, dass es ihn gibt, verleiht es einer Serie oder einem ähnlichen Projekt eine innere Konsistenz. Gleichzeitig mag er auch einschränkend sein. Auf diese Weise ist er eigentlich wie das Leben selbst. Das Problem vieler Serien war nur das gleichzeitige „zurück auf Anfang“, das dort herrschte und besagte, dass am Ende einer Episode der gleiche Zustand zu herrschen hatte, wie am Anfang. Eine Nebenhandlung über mehrere Folgen weiter zu verfolgen, kam im SF-Bereich eigentlich erst so richtig mit BABYLON 5 auf. Bis dahin gab es Geschichten wie „Tuvix“ bei „Star Trek Voyager“, als Tuvok und Neelix durch einen Transporterunfall zu einer Person verschmolzen und diese neue Person für sich beanspruchte, auch ein Recht auf Leben zu haben, das allerdings zum Ende der Episode zwangsweise durch Janeway beendet wurde, damit zur nächsten Folge wieder Tuvok und Neelix zur Verfügung standen. Eine leichte humoristische Anmerkung dazu hingegen gab es in „Der hippokratische Eid“ von „Star Trek Deep Space Nine“, als O’Brien und Bashir eine tiefergehende Meinungsverschiedenheit haben und Bashir am Ende der Episode meint, die beiden sollten ihre gemeinsamen Aktivitäten erst einmal bleiben lassen – für mindestens eine Woche (also bis zur nächsten Episode).

Dass es auch fast ganz ohne Kanon geht, zeigt eine andere Serie, „Die Simpsons“. Hier wird alles der laufenden Handlung untergeordnet, wenn es in einer Folge notwendig ist, dass man vom Haus der Simpsons aus das Gefängnis sieht, dann ist das so, auch wenn in einer anderen Episode dort etwas völlig anderes zu sehen ist. Es gibt lediglich einige wenige Konsistenzen innerhalb der Serie (zum Beispiel der Tod von „Zahnfleischbluter Murphy“ oder Flanders Ehefrau Maud), ansonsten haben die Autoren ziemlich freie Hand. Allerdings spielen sie auch gerne damit, respektive sie parodieren die Versuche anderer Serien, einen Kanon einzuhalten oder die Tatsache, dass denen das eben nicht gelingt. Ein Teil dieses Konzeptes ist es unter anderem, dass Homer Simpson hin und wieder mal von seinem eigentlichen Job im Kernkraftwerk entlassen wird, aber merkwürdigerweise doch immer wieder auf den gleichen Posten wieder eingestellt wird.

Also Kanon oder nicht Kanon, das ist hier die Frage… Ich würde sagen, Konsistenz muss sein. Man möchte seine Lieblingsserie wiedererkennen, wenn man sie sieht. Bei den Simpsons ist das etwas anderes, da weiß man, worauf man sich einlässt – und immerhin dient der Bruch der Konsistenz hier der Unterhaltung. In anderen Serien wirkt es eher störend, vor allem, wenn der Bruch zu auffällig ist. Ich persönlich bin gleichzeitig auch ein Freund von Entwicklungen, deswegen hat mich BABYLON 5 so fasziniert. Während in anderen Serien die Entwicklung sehr unterschwellig und abhängig von den verschiedensten Autoren war – und zumeist auch ein Produkt des Zufalls -, war sie hier von vorneherein gewollt und gemacht. Denn wie heißt es so schön: Im Universum gibt es nur eine Konstante – die Veränderung. Panta rhei, alles fließt.
Es mag schwierig sein, vor allem, wenn ein Projekt schon sehr komplex ist, aber der Kanon gibt ihm auch etwas einzigartiges, einen Boden, auf dem es fest stehen kann. Und das ist auch wichtig. Selbst bei den Simpsons.

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