Gestern geschah’s, als ich ob der hereinbrechenden Nacht und der sie begleitenden Dunkelheit mich anschickte, für gemütliche Beleuchtung zu sorgen und eine Kerze entzündete. Sodann nahm ich eine Flasche meines Lieblingsgestränks, füllte mein Glas auf und setzte mich, um mich der Lektüre eines Buches zu widmen. Ich hatte den ersten Satze noch nicht vollendet, als ich leise, aber dennoch deutliche Stimmen vernahm.
„Ei!“, sagte die eine Stimme. „Schaut nur, er hat ein Lichtlein angezündet!“
„Ha!“, sagte die zweite. „Lasst uns näher herangehen!“
„Nun!“, sagte eine dritte. „Das ist doch mal eine angenehme Überraschung.“
Ich senkte das Buch, legte dabei meinen Zeigefinger zwischen die Seiten, um nicht zu verlieren, wo ich bereits gewesen war, und sah auf. Wie erschrak ich, als ich bei der großen Kerze, der ich noch vor wenigen Minuten den Docht entzündet hatte, drei kleine Gestalten sah, die die nämliche Flamme schwebend umkreisten. Und wie sahen sie aus! Kaum größer als meine Hand und gekleidet in weite, bunte Gewänder.
„Hallo?“, fragte ich vorsichtig in Richtung der Kerze, meinen Sinnen kaum vertrauend. Hat man jemals gehört, dass jemand eine solche Begegnung hatte?
„He!“, sagte einer der drei. „Er hat uns bemerkt.“
„Ja!“, ergänzte der nächste. „Wir waren ja auch laut genug.“
„Na!“, meinte der dritte. „Wir haben’s etwas an Höflichkeit fehlen lassen.“
Nunmehr erhob ich mich von meiner Sitzgelegenheit und ging auf die Kerze zu, die auf einem kleinen Beistelltisch stand. So vorsichtig bewegte ich mich, als befände sich dort ein scheues Tier, das einzufangen ich die Absicht hätte. Meine Gefühle waren eine Mischung aus Schrecken und Neugier. Ein Teil von mir konnte sich schwerlich vorstellen, dass diese kleinen Kreaturen, was auch immer sie waren, gefährlich sein konnten. Doch ein anderer Teil von mir gemahnte mich, nicht zu vorschnell zu handeln und mich von den Augen täuschen zu lassen.
So also näherte ich mich, meine Besucher nicht aus den Augen lassend. Und auch sie hatten mich mit ihren Blicken fixiert, wenngleich auf allen drei Gesichtern ein breites Lächeln zu sehen war. Auf meinem eher nicht, die Anspannung stand hineingeschrieben und nervös bewegte ich den Kiefer, wobei meine Zahnreihen aufeinander schabten. Endlich war ich bis auf einen Schritt an besagten Beistelltisch herangekommen. Passiert war bis dahin weiter nichts.
„Guten Abend“, erbot ich schließlich, „eine späte Stunde habt Ihr Euch für Euren Besuch ausgesucht.“
„Ho!“, sagte der erste. „Späte Stunde ist richtig, Besuch auch, aber aussuchen, das nicht.“
„Hi!“, bestätigte der zweite. „Er glaubt, wir wären aus freien Stücken hier.“
„Hu!“, amüsierte sich der dritte. „Obwohl wir’s diesmal gut getroffen haben.“
„Darf ich den fragen“, versuchte ich vorsichtig auszukundschaften, „mit wem ich’s zu tun habe?“
„Mein Name ist Armselig!“, rief der erste.
„Meiner ist Jämmerlich!“, erklärte der zweite.
„Meiner ist Mitleiderregend!“, ergänzte der dritte.
Ich verstand nicht sofort. Zunächst glaubte ich, meine drei Besucher wollten mit ihren Namen nicht herausrücken, weil sie für fremde Ohren so merkwürdig klängen. Doch mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das waren ihre Namen! Armselig, Jämmerlich und Mitleiderregend.
„So seht ihr aber gar nicht aus“, versuchte ich etwas Konversation zu betreiben. Mein Versuch entlockte den dreien ein lauthalses Kichern.
„Ah!“, bemerkte Armselig. „Wir haben’s wirklich gut getroffen!“
„Oh!“, stellte Jämmerlich fest. „Dabei hatten wir schon Bedenken!“
„Uh!“, fügte Mitleiderregend an. „Wir konnten ja nur von nichts Gutem ausgehen!“
Da kicherten sie wieder. Und als sie sich beruhigt hatten, sahen sie sich offenbar genötigt, das Kompliment zurückzugeben.
„Du siehst auch nicht so aus! Gar nicht armselig.“
„Nein, Du siehst wirklich nicht so aus! Gar nicht jämmerlich.“
„Gewiss nicht, so siehst Du nicht aus! Gar nicht Mitleid erregend.“
Nunmehr kniete ich mich auf den Boden neben den kleinen Beistelltisch. Auf diese Weise war ich mit meinem Gesicht auf einer Höhe mit der Flamme und den drei seltsamen Gestalten. So nahm ich einen weiteren Anlauf.
„Und, warum seid Ihr hier?“, fragte ich geradheraus.
„Du musst wissen“, antwortete mir Armselig, „dass wir Wortgeister sind!“
„Du sollst erfahren“, gab Jämmerlich an, „dass wir auf Reisen geschickt werden von einem Menschen zu einem anderen.“
„Du wirst hören“, vervollständigte Mitleiderregend, „dass wir von einem anderen Menschen zu Dir geschickt wurden.“
Wortgeister! Ein kühner Gedanke kam mir. Jemand hatte sie auf Reisen geschickt, dass bedeutete, dass irgendwo ein Mensch mich mit den Worten, die ihre Namen bildeten, bedacht hatte. Jemand schien ärgerlich zu sein, und der Grund dafür war wohl ich. Verwundert fragte ich die Erscheinungen, wer denn sowas hätte tun sollen, und in ihrer eigentümlichen Weise gaben sie mir bereitwillig Antwort. Als ich jedoch den Namen desjenigen hörte, der diese unfreundlichen Worte – und damit die Wortgeister – auf die Reise geschickt hatte, da verfiel ich in tiefes Grübeln. Den alten Zacharias hatte ich seit mindestens fünf, nein, sieben Jahren nicht mehr gesehen. Möglicherweise waren’s auch mehr, das wusste ich in dem Moment nicht. Es war lange her, und ich hatte damit abgeschlossen. Nun gut, die Art, wie wir nach einer Freundschaft getrennte Wege gegangen waren, war nicht sonderlich freundlich gewesen. Im Gegenteil, wir hatten eine Meinungsverschiedenheit gehabt. Doch an ein Beilegen selbiger war nicht zu denken, denn er hatte verlangt, ich sollte zugeben, im völligen Unrecht zu sein und mich bei ihm entschuldigen. Das konnte ich nicht, denn meiner Meinung nach war ich nicht im Unrecht, aber ich war Willens und bereit gewesen, zu akzeptieren, dass er eine andere Meinung hatte als ich. Selbiges war ihm aber nicht genug gewesen, und so spuckte er Gift und Galle und beschimpfte mich aufs Übelste. Unsere Wege trennten sich, und ich glaube, er hat es mir sehr übel genommen, dass ich nicht so tat, wie er gewollt hätte. Über die Jahre hatte ich damit abgeschlossen, wenngleich die Worte, die er zu mir gesagt hatte, wirklich übelster Art gewesen waren; aber man konnte ja nicht immer nur in der Vergangenheit leben, sondern musste sich letztlich auch der Zukunft zuwenden.
Ich erzählte den Wortgeistern die Geschichte mit ebendiesen Worten und fügte hinzu, dass es mir seltsam erschien, dass er nach so langer Zeit, in der wir uns völlig aus den Augen verloren hatten, noch einen Groll hegte.
„Ach!“, seufzte Armselig. „Der arme Groll!“
„Ach!“, seufzte auch Jämmerlich. „Sitzt in seinem Käfig und ist schon ganz fett, so sehr ist er gehegt worden!“
„Ach!“, seufzte sogar Mitleiderregend. „Bittet so sehr darum, dass es zu Ende sein möge und man ihn freiließe, doch sein Herr hört nicht!“
Das machte mich betroffen und ich überlegte, ob wir Menschen manchmal in unserer Eitelkeit schlichtweg übersehen, was wir dem Leben antun. Zugleich verwirrte mich sehr, was für kurzweilige Gesellen meine unfreiwilligen Gäste waren, waren sie doch aus einem Gefühl des Ärgers, der Wut oder gar des Zorns zu mir geschickt worden. Als ich meine Verwirrung in Worte fasste, schwebte Armselig zu mir herüber, so dass er direkt vor meinem Gesicht in der Luft stehenblieb.
„Ich will’s Dir erklären!“, bestimmte er. „Wenn Du einem Menschen gegenüberstehst, der ein Messer hat, so ist es doch ziemlich unerheblich, welche innere Einstellung Du zu dem Messer hast, nicht wahr?“
„Das kann man wohl sagen!“, mischte sich Jämmerlich ein, der auf einmal neben Armselig schwebte. „Es ist ganz unerheblich, ob Du glaubst, dass das Messer Dich verletzten könnte, oder nicht. Wenn der andere zusticht, wird es Dich verletzen, so oder so, oder?“
„Da braucht es keine großen Worte!“, sagte da Mitleiderregend, der mittlerweile zu seinen Freunden aufgeschlossen hatte. „Aber bei Worten ist das anders! Bei Worten ist es sogar ganz erheblich, welche innere Einstellung Du hast. Wenn Du es an Dich heranlässt, können Dich Wort genauso verletzen wie das Messer. Doch wenn Du Abstand hälst, ist selbst das giftigste Wort so harmlos wie eine Daune, na?“
„Und Ihr wollt sagen, weil ich zu der Sache bereits Abstand habe…“, begann ich, und die drei vervollständigten im Chor: „…sind wir keine boshaften Geister!“
Während sie sich nun wieder der Kerzenflamme zuwandten, sinnierte ich über das Tun der Menschen. Es war so schwer, zugleich aber auch so einleuchtend: Wenn ich dafür sorgte, dass ich innerlich Abstand zu einer Sache gewann, so konnte mich diese nicht mehr verletzen. Ja, fragte ich mich, wie sollte es denn sonst funktionieren? Niemand konnte mir das abnehmen, es war meine Aufgabe, den Käfig des Grolls zu öffnen und ihn laufenzulassen, anstatt ihn zu hegen, bis er rund und fett war. Und meine Gedanken gingen zum alten Zacharias, der vermutlich allein in der Finsternis seiner Wohnung saß und seine Grolle hegte. Vielleicht hatte er eine ganze Menagerie, von der er nicht lassen wollte.
Meine Besucher indessen hatten wohl meine Gedanken erraten, denn schon hatten Sie noch etwas zu erzählen.
„Weißt Du, warum Menschen das machen?“, fragte Armselig. „Sie schicken mit jedem schlechten Wort ein Stück ihres eigenen Schmerzes, ihrer eigenen Finsternis mit, in der Hoffnung, ihrer eigener Schmerz wird dadurch weniger.“
„Aber weißt Du, was stattdessen passiert?“, wollte Jämmerlich wissen. „Die Natur verabscheut das Vakuum. Sobald sie ein Stück aus ihrem Schmerz herausgetrennt haben, beginnt jener wieder zu wachsen, um die Lücke zu schließen. Und bald ist es schlimmer als zuvor.“
„Und weißt Du, was man tun muss?“, hakte Mitleiderregend nach. „Wenn der Schmerz weniger werden soll, musst Du selbst dafür sorgen, dass anderes an seine Stelle tritt. So kann keine Lücke entstehen, in die er wieder wachsen kann. Du musst den Schmerz wandeln in positive Empfindungen. Dann wird er abnehmen.“
Ich verstand. Und so seltsam es klang, ich verstand auch, dass manche Menschen diesen Weg eben nicht gehen. Denn es war viel einfacher, immer wieder kleine Stücke seines Schmerzes in Form von boshaften Worten zu versprühen, als sich dem langsamen Prozess der Wandlung hinzugeben.
„Du hast es schon geschafft“, unterbrach Armselig meine Gedanken. „Deswegen durften wir bei Dir in dieser Gestalt erscheinen. Und das hat uns sehr gefallen.“
„Denke daher immer an uns“, ergänzte Jämmerlich. „Hege deswegen keinen Groll gegen den alten Zacharias. Das hat der arme Groll nicht verdient.“
„Du ahnst nicht, wie oft der Alte uns schon auf den Weg geschickt hat“, vervollständigte Mitleiderregend. „Und viel zu oft mussten wir als böse Geister ein Unwesen treiben. Gelegenheiten wie diese sind viel zu selten.“
Und damit verabschiedeten sie sich von mir, um in der Zeitspanne eines Wimpernschlags genauso geheimnisvoll zu verschwinden, wie sie erschienen waren. Zurück blieb ich allein mit einer brennenden Kerze, einem vollen Glas und einem Buch, das ich noch immer in der Hand hielt. Während ich mich erhob und zu meiner Sitzgelegenheit zurückkehrte, versuchte ich im Gedanken zu rekapitulieren, was für ein Tag wohl war, denn ich fragte mich, welchen besonderen Anlass der alte Zacharias gehabt haben könnte, mir ausgerechnet heute die Wortgeister zu schicken. Doch so sehr ich mir auch das Gehirn zermarterte, ich kam zu keinem Ergebnis. Nur zu dem, dass jemand, der einen Groll über lange Zeit hegte, keinen besonderen Anlass brauchte, um boshafte Worte an einen anderen Menschen zu schicken.
Nur Schmerz.