Über die Entstehung des Albums wurde im Artikel „Die sieben Kristallkugeln“ schon alles gesagt. Dieser Band schließt sich nahtlos an.
Inhalt: Bienleins Entführer sind in Peru angekommen. Offenbar hat der zerstreute Professor in ihren Augen Gotteslästerung begangen, weil er sich den Armreif der Mumie des Rascar Capac angelegt hatte. Mit Hilfe des Indianerjungen Zorrino folgen Tim und Haddock den Entführern in die Anden, zum letzten Versteck der Inkas: dem Sonnentempel.
Kritik: Das Okkulte, das in Teil 1 der Geschichte angelegt wurde, tritt hier für eine lange Zeit erst einmal in den Hintergrund. „Der Sonnentempel“ ist zur Hauptsache eine Abenteuergeschichte und berichtet davon, wie Haddock und Tim zum Sonnentempel kommen und was sie dort erleben. Die „Pointe“ der Geschichte, die Hergé übrigens von einer Erzählung über Christoph Kolumbus hat, bereitete dem Zeichner selbst Magenschmerzen, und das aus zwei guten Gründen. Erstens dauert das Ereignis, das Tim ausnutzt, viel zu lang für einen Überraschungseffekt. Zweitens: Wie heißt nochmal der Ort, an dem sich die wackeren Abenteurer befinden? Richtig – und man kann eigentlich davon ausgehen, dass Priester eines solchen Tempels bestens über solche Ereignisse Bescheid wissen. Er ließ die Geschichte trotzdem so enden, und es tat ihr keinen großen Abbruch.
Wieder kommt der Humor nicht zu kurz, dafür sorgen unter anderem Schulze und Schultze, aber auch Kapitän Haddock. Bei diesem benutzt Hergé einen Kunstgriff, den er in „Die sieben Kristallkugeln“ schon angedeutet hat. Als Haddock dort eine Treppe in Birnbaums Haus herunterfällt, blickt er scheinbar den Leser mürrisch an, als wolle er sagen: „Wehe, wenn Sie lachen!“ Im „Sonnentempel“ geht er noch weiter: Haddock will seine Fitness demonstrieren und springt ohne Anlauf längs über einen Tisch. Er schafft den Sprung aber nicht ganz und schlägt mit dem Hinterteil auf der Tischkante auf. Der Tisch kippt und eine Obstschale wird hochkatapultiert, deren Inhalt Haddock auf den Kopf fällt. Hier durchbricht Hergé dann die berühmte „vierte Wand“, der Kapitän schaut den Leser direkt an und fragt: „Finden Sie das etwa komisch?“
Für die Umarbeitung als Album musste die Geschichte etwas gekürzt werden, aber das fällt nur auf, wenn man sehr genau hinsieht und es stört den Fluss der Handlung nicht. Beispiel gefällig? Als die beiden kurzfristig getrennt werden, trifft Haddock schließlich auf einen als Indio verkleideten Tim und erkennt ihn nicht wieder. Auf Seite 12 des Albums in der obersten Reihe spricht Haddock Tim im mittleren Bild an: „Sage mir, mein Sohn, hast du einen jungen Weißen mit einem kleinen Hund gesen?“ Auf dem nächsten Bild zieht Tim seine Mütze ab und sagt: „Ja, und ich kenne ihn sehr gut!“ Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass die beiden im mittleren Bild auf der Straße stehen. Im nächsten Bild stehen sie plötzlich auf einem Stück Rasen vor dem Haus, das vorher im Hintergrund war. Hier wurde eine Bildfolge entfernt, in der Haddock mit Kreide ein Bild von Tim an die Hauswand malt. Die Geschichte gewinnt dadurch – und die anderen Kürzungen – an Tempo, auch wenn so den Comic-Album-Lesern Haddocks zeichnerisches Talent vorenthalten wird.
„Der Sonnentempel“ ist ein würdiges Finale für eine rundum überzeugende Geschichte, die Hergés Vorliebe für die amerikanischen Naturvölker entspricht.