Direkt im Anschluss an die erste Folge der neuen RTL-Action-Soap-Wasauchimmer-Serie „112 – Sie retten dein Leben“ habe ich mich hingesetzt und unter dem ersten Eindruck eine Kritik geschrieben. Dieser erste Eindruck war… schlecht. Sollten Sie ihn bisher noch nicht gelesen haben, nehmen Sie sich die Zeit und holen Sie es nach – Sie finden den Artikel hier: „Tatü – Tata: 112 – Wer rettet wen und warum?“ Ich warte so lange, bis Sie wieder da sind.
Gelesen? Schön. Wie ich in dem Artikel angekündigt habe, habe ich mir tatsächlich die komplette erste Woche dieser Serie angetan. Manchen Serien muss man eine gewisse Zeit geben, damit sie sich entwickeln können, oder damit man eventuell sehen kann, in welche Richtung es geht (so ist es mir persönlich zum Beispiel bei „Babylon 5“ gegangen). Da es sich bei „112…“ um ein Format mit recht kurzen Episoden handelt, ist es nicht möglich, sehr viel Handlung in einer Folge unterzubringen. Aber nun, nach fünf Folgen, kann man schon etwas klarer sehen, daher hier meine Nachbesprechung – wieder aus dem Blickwinkel eines Menschen, der – im Gegensatz zu den Schreiberlingen dieser Serie – Ahnung von der Materie hat. Ich möchte die Kritik aufteilen, zuerst eine allgemeine Einschätzung, dann werde ich mir jede der vier Folgen seit letztem Dienstag einzeln vornehmen, und dann eine abschließende Einschätzung über das Potential der Serie. Ja, sie hat ein Potential – ein Gefahrenpotential. Aber dazu kommen wir später.
Mr. Pither: Sie sind Konteradmiral Sir Dudley Compton?
Chinese: Nein. Er gestorben. Hat Herzinfarkt und fallen aus Fenster auf explodierende Bombe und getötet in Schießerei.
(aus „Monty Python’s Flying Circus“, Episode 34: „Die Fahrradtour“)
Als ich die zweite Folge der Serie sah, war ich kurz geneigt, mich positiv überraschen zu lassen. Leider wurde das alles zunichte gemacht, so dass ich zu dem Schluss kam: nach der Freitags-Folge werde ich mir keine weitere mehr antun. Ich tat es, weil ich der Serie eine Chance geben wollte. Immerhin ist es tatsächlich so, dass eine tägliche Serie, die die Arbeit von Feuerwehr und Rettungsdienst thematisiert, ein neues Konzept ist. Nicht neu ist hingegen die Umsetzung. Es ist mehr „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, nur dass die ganzen Jugendlichen durch (einigermaßen) erwachsene Menschen ersetzt wurden und halt nicht in einem hippen Café oder einer Werbeagentur arbeiten, sondern im Rettungswesen. Die persönlichen Geschichten, die erzählt werden, könnte so auch in irgendeine andere Umgebung gesetzt werden, sie sind völlig austauschbar und gehen mir mittlerweile auf die Nerven. Hier wurden Möglichkeiten einfach verschenkt. Mal ganz davon abgesehen, dass die Menschen genauso zickig reagieren, wie in jeder anderen Seifenoper. Gibt es ein Problem oder einen Konflikt, redet man nicht darüber, nein, man schweigt beleidigt. Auf diese Weise lässt sich der Konflikt über unzählige Episoden hinziehen und man muss sich nichts neues ausdenken.
Verschenkt wurden auch die Möglichkeiten, einen Hintergrund aufzubereiten, denn darüber erfährt man eigentlich nichts. Okay, man sieht, Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei unter einem Dach – das scheint eine Novität zu sein. Aber warum? Was ist das? So eine Art Pilotprojekt? Das wird nicht gesagt. Ist die Verwaltungschefin deswegen so hinter den Zahlen her, weil sie weiß, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen, wird das Experiment auch ganz schnell wieder abgeblasen? Was ist das mit der „Paramedic“? Wird hier ein neues Berufsmodell für den Rettungsdienst ausprobiert? Fragen, deren Antworten recht spannend sein könnten. Leider wurde das alles in die Wolken geblasen für ein bisschen Action und 08/15-Seifenoper-Handlung. Und wo wir gerade von der Action reden: Das Zitat aus dem „Flying Circus“ habe ich oben gebracht, weil ich bei jeder Folge an diese Szene denken musste. Es reicht nämlich nicht ein einfacher Notfall, nein, da muss immer noch was draufgegeben werden. Und damit zu den einzelnen Folgen. Da diese keine Titel haben, habe ich einfach Folgennummer und Datum angegeben.
Folge 2, 26. August 2008
Aufgrund eines schlecht ziehenden Holzkohleofens verraucht eine Wohnung. Als die Feuerwehr den Kamin freiräumen will, entsteht ein Kellerbrand – und das in der Nähe einer schlecht verlegten Gasleitung, die zu explodieren droht.
Konsequenzen aus Folge 1: In Folge 1 überschreitet der von Dominic Saleh-Zaki dargestellte Polizist Florian Carstens ein paar Grenzen, als er Anweisungswidrig handelt und die Notfallsituation damit verschärft. Er muss sich hier einiges anhören und ehrlich, ich war positiv beeindruckt: Alles, was ich über den Eigenschutz in meiner ersten Kritik gesagt hatte, kam hier zur Sprache. Das waren regelrecht lichte Momente, in denen ich hoffte, man würde mehr daraus machen. Leider blieb es dabei, aber eigentlich sollte man Einsatzleiter Ingo Benders (Gernot Schmidt) Satz den Schreibern der Serie auf die Stirn tackern: „Bringt Euch nicht in Gefahr, das bringt den Opfern auch nichts!“
Paramedic – oder so: In meiner Kritik zu Folge 1 habe ich die Liebschaft des Dienststellenleiters, deren Namen ich leider vergessen (oder verdrängt) habe, noch als „Notärztin“ bezeichnet. In dieser Folge kommt nun heraus – das ist sie gar nicht. Florian Carstens bezeichnet sie hämisch als „Paramedic“, weil „zum Medizinstudium hat’s wohl nicht gereicht“. Ich weiß nicht, wo die Schreiber das her haben, aber in der Tat gibt es im Moment eine berufspolitische Diskussion um die Zukunft der Ausbildung im Rettungsdienst. Eine der Überlegungen ist es, eine Art „Paramedic“ als Beruf im Rettungsdienst einzuführen. Insofern wäre das in der Serie dargestellt Projekt wirklich richtungsweisend – aber wie schon mehrfach gesagt, man macht einfach nichts draus. Lieber konzentriert man sich auf das Verhältnis der Paramedic zu Dienststellenleiter Martin Carstens (Joachim Raaf), Florians Vater, was ein kompliziertes – und sehr konstruiertes – Dreiecksverhältnis aufbaut. Den Beruf „Paramedic“ gibt es derzeit nicht, auch haben Rettungsdienstmitarbeiter nicht die Befugnisse, die die Paramedic in der Serie ausübt (Medikamentengabe und Defibrillation ohne Notarzt und dergleichen – es gibt da zwar die so genannte „Notkompetenz“, aber das würde hier zu weit führen).
Disponentin „erhört“ den Notfallort: Bei dem Notfall dieser Episode ist eine junge Frau in einer Wohnung, die gerade von einem schlecht ziehenden Ofen verraucht wird. Sie wählt den Notruf, kann allerdings keine Angaben mehr über ihre Adresse machen. Was tun? Die Disponentin hört auf Hintergrundgeräusche und kann so den Notfallort eingrenzen. Ui, toll… Darf ich gleich zwei Alternativen anbieten, die ein wenig realistischer gewesen wären? Nummer eins, auch wenn die Anruferin ein altes Wählscheibentelefon hat, so müsste es dennoch möglich sein, ihren Anschluss zu ermitteln – schon hat man ihre Adresse. Ta – da! Wie, zu langweilig? Okay, Alternative zwei: Die Anruferin hat im Verlauf des Gesprächs erzählt, sie wolle nicht zu den Nachbarn gehen (um die genaue Adresse zu erfragen), die hätten sie kürzlich angezeigt, weil sie Gras (Canabis) auf ihrem Balkon angebaut habe. Dann muss es doch einen Eintrag bei der Polizei geben. Den Namen der Frau hat man, man fragt den Computer der Polizei ab – schon hat man ihre Adresse. Ta – da!
Vorgehen ohne Atemschutz: Obwohl bekannt ist, dass in der Wohnung Brandgase vorhanden sind, gehen sowohl der Einsatzleiter der Feuerwehr als auch die Besatzung vom Rettungswagen ohne Atemschutz in die Wohnung. Dass das Rettungsdienstpersonal mit in die Wohnung kommt, ist an sich schon ein Unding. Die Rettung solcher Personen ist Sache der Feuerwehr – MIT Atemschutz.
Lass Dich drücken: Was zur Hölle macht die Paramedic, als der Einsatzleiter nach der Explosion – die er erstaunlich gut überstanden hat, obwohl ihn die Feuerwalze voll erfasst, hochschleudert und er auf seiner Pressluftflasche landet – auf der Trage liegt? Er hat Kammerflimmern, offenbar soll das, was sie tut, so was wie eine Herz-Druck-Massage sein. Es sieht aber aus wie Brustkorb streicheln. Dass sie kurz darauf den Defibrillator verwendet, ist sogar korrekt. Ein Kammerflimmern kann durch einen gezielten Stromstoss bekämpft werden.
Guten Morgen, Sonnenschein: Ich habe das Gefühl, ich bewege mich im Kreis. Noch in der ersten Kritik habe ich von den Patienten erzählt, die gleich nach einer Reanimation aufwachen – und zack! Was passiert? Der Einsatzleiter wacht auf, nachdem er wiederbelebt werden musste. Er gibt sogar Anweisungen und muss sich dafür die Kommentare von Kollegen anhören. An der Stelle hab ich 500 Milligramm Acetylsalicylsäure gebraucht.
Folge 3, 27. August 2008
Ein Mann wird von seiner Frau verlassen. Als sie aus dem Haus tritt, schießt er sie vom Balkon aus nieder. Als der Rettungsdienst und die Polizei eintreffen, schießt er auch auf sie und hindert sie so daran, der Verletzten zu helfen.
Dieses Büro ist zu klein für uns beide: In jeder Episode zanken sich Carstens und die Verwaltungschefin Doktor Driesen (Sandra Schlegel). So auch hier. Nur langsam wird es langweilig, weil die Diskussion stets unsachlich ist, gerade so, als ob beide keine Ahnung haben, um was es eigentlich geht.
Das Bermuda-Dreieck: Weiter wird die Dreiecksbeziehung zwischen Carstens, seiner Geliebten und seinem Sohn ausgewalzt. Alles dazu habe ich bereits weiter oben erwähnt.
Noch fünfzehn Minuten bis Buffalo: Theodor Fontane möge mir verzeihen, dass ich sein Zitat aus „John Maynard“ mit einer Seifenoper in Verbindung bringe, aber es passt: Als die Frau verletzt auf dem Rasen liegt, sagt die Paramedic, sie habe „noch fünfzehn Minuten“, bevor sie verblutet. Wo nimmt sie diese Zahl her, noch dazu, da sie die Verletzte wegen des rumballernden Ehemans gar nicht richtig hat untersuchen können?
Ich gehe nirgendwo hin: Der Dienststellenleiter leitet zwar den Einsatz seiner Polizisten – aber er tut das von der Wache aus. Das eigentliche Verfahren – und ich denke, dass das bei der Polizei ähnlich ist wie bei anderen Hilfsdiensten – ist, dass ein Einsatzleiter vor Ort ernannt wird. Es ist viel zu Umständlich, einer in einem Büro weit entfernt sitzenden Person über Funk die Situation zu erklären, damit diese dann Entscheidungen treffen kann. Noch dazu, da sich die Situation von Sekunde zu Sekunde ändern kann und möglicherweise eine schnelle Entscheidung gefragt ist.
Folge 4, 28. August 2008
Durch einen Defekt gerät der Motor eines Aufzugs in Brand. In dem Aufzug sind zwei Personen eingeschlossen, von denen eine kollabiert. Beim Rettungsversuch stellt sich heraus, dass bei der Wartung des Aufzugs gepfuscht wurde und das Tragseil zu reißen beginnt.
Und täglich grüßt das Murmeltier: Das Dreieck Vater-Sohn-Liebschaft bekommt langsam spitze Winkel, als der Sohn der Liebschaft gegenüber den Vater als Weiberheld darstellt (nicht ahnend, wem er das erzählt). Statt das Gespräch zu suchen, zieht sich die Paramedic beleidigt zurück. Vorausschaubare Teletubbie-Dramaturgie. Obwohl, das ist nicht ganz fair. Ich entschuldige mich bei den Teletubbies (und das war jetzt auch vorausschaubar, was?).
Und er soll heißen „ZDLs Traum“ – weil er so seltsam angezettelt ist: Hat man das schon erlebt – Fontane und Shakespeare zusammen in einer Kritik über eine Seifenoper? Nun, „Ein Sommernachtstraum“ ist „112…“ wahrlich nicht, denn in dieser Folge wird mit dem nächsten Klischee aufgefahren: Ein neuer Zivildienstleistender (kurz „ZDL“) hat seinen Einstand, dem die Null-Bock-Einstellung schon auf die Stirn geschrieben steht. Was macht so jemand ausgerechnet beim Rettungsdienst? Es gibt viel bequemere Stellen, wo man den Zivildienst „runterreißen“ kann.
Das „Pilot“-Projekt: Etwas ganz besonderes haben die Schreiber offenbar mit dem Piloten des Hubschraubers vor, der feststellt, dass seine Hände unkontrolliert zu zittern beginnen. Es handelt sich hierbei vermutlich um die „Oh-Gott-wenn-das-rauskommt-kann-ich-meinen-Job-nicht-mehr-machen-was-dann-ich-verheimliche-es-lieber-auch-wenn-ich-dabei-mein-Leben-und-das-von-anderen-riskiere“-Handlung, die ihren Lauf nimmt.
Alte Seilschaften: Um zu der zwischen zwei Stockwerken hängenden Aufzugskabine zu kommen, klettern sowohl Polizist Carstens (der Sohn) als auch die Paramedic (des Vaters Liebschaft) am Aufzugsseil hinab. Der Eigenschutz hatte wohl gerade seinen Jahresurlaub eingereicht. Oder um es mit den Worten der Paramedic (allerdings aus der nächsten Folge) zu sagen: „Das geht ja mal sowas von gar nicht!“
Ohr-Troubles – Problem mit den Ohr’n: In der Aufzugkabine angekommen wird der bewusstlose Patient untersucht. Mit Hilfe eines Stethoskops stellt die Paramedic die Diagonse „Kammerflimmern“. Das kann man nur mit einem EKG, hören tut man bei einem Kammerflimmern – gar nichts. Das Herz steht nämlich praktisch still. Das bringt uns zum nächsten Punkt.
Dieser Notfall wird Ihnen präsentiert von SALZ(TM). Denn: SALZ(TM) ist überall. Gewöhnen Sie sich dran! Nachdem die Paramedic also die Diagnose „Kammerflimmern“ gestellt hat, brüllt sie den Schacht hoch nach ihrer Notfalltasche (die in der Serie übrigens konsequent falsch als „Koffer“ bezeichnet wird). Warum die Notfalltasche? „Ich brauche die Salzlösung!“ Salzlösung, okay, den Begriff als solches kann man noch durchgehen lassen, aber bei einem Kammerflimmern wäre der Defibrillator das Mittel der Wahl. Die Infusion bringt gar nichts. Sie macht aber nichts dergleichen, auch keine Wiederbelebung. Hätte er wirklich ein Kammerflimmern gehabt, wäre der Mann gestorben. Aber wir sind ja nur beim Fernsehen. Ist ja alles gar nicht echt. Der tut ja nur so.
Entschuldigung. Ich mache gleich weiter. Ich muss nur meine Fassung wiederfinden.
Danke, geht schon wieder. Also, weiter im Text. Ist ja nur noch eine Folge.
Folge 5, 29. August 2008
Ein Verkehrsunfall. Ein Motorradfahrer stürzt, ein Kleintransporter weicht ihm aus und überschlägt sich. Der Kleintransporter landet genau auf der Fracht des Motorrads, ein Spenderorgan, das dringend benötigt wird.
Väter der Klamotte: Natürlich muss das Dreieck noch ein wenig komplizierter werden. Der Sohn entlarvt die „Maschen“ des Vaters und dessen Vorliebe bei Frauen. Die Paramedic wird noch zickiger (falls das überhaupt geht). Habe ich die Teletubbies schon erwähnt?
Der Fluch des Navigators: Die Ausfälle des Piloten werden immer heftiger, Händezittern, verschwommenes Sehen, starke Kopfschmerzen. Laut den Regeln der Seifenopern-Medizin spricht das alles dafür, dass der Pilot ein Hirntumor hat. Das würde zu der „Oh-Gott-wenn-das-rauskommt-kann-ich-meinen-Job-nicht-mehr-machen-was-dann-ich-verheimliche-es-lieber-auch-wenn-ich-dabei-mein-Leben-und-das-von-anderen-riskiere“-Handlung noch die „Oh-Gott-ich-habe-eine-gefährliche-Krankheit-sag-es-aber-niemandem“-Handlung dazubringen. Das Resultat wäre eine „Oh-Gott-ich-habe-eine-gefährliche-Krankheit-die-meine-Leistungskraft-beeinflusst-wenn-das-rauskommt-kann-ich-meinen-Job-nicht-mehr-machen-was-dann-ich-verheimliche-es-lieber-auch-wenn-ich-dabei-mein-Leben-und-das-von-anderen-riskiere“-Handlung.
Rettung aus der Not: Ein gewisser Doktor Tom Wagner (Max Alberti) stellt sich vor, der demnächst als „Rettungsarzt“ anfangen soll. Anderswo nennt man solche Leute „Notarzt“ – und wieder wird mir das System nicht klar, denn bisher hat man keinen Notarzt im Einsatz gesehen, nur die Paramedic. Wozu braucht man den Neuen, außer zum Aufpeppen der Handlung?
„Ent-scheidung“ ist auch ’ne Scheidung: Dienststellenleiter Carstens und Frau Doktor Driesen geraten mal wieder aneinander. Sie will den Hubschrauber aus Kostengründen nicht starten lassen. Auch wenn die Bürokraten mittlerweile im medizinischen Sektor sehr viel Macht haben, so weit ist es noch nicht. Wird ein Hubschrauber gebraucht, startet ein Hubschrauber – über die Kosten kann man nachher streiten.
Flieger, grüß mir die Sonne: Das Konzept mit dem Hubschrauber ist mir auch nicht ganz klar. Da ist also an dieser Rettungszentrale ein Hubschrauber stationiert. Mit einem Piloten. Punkt. Der rückt ab und zu mal aus und wird auch für Rettungstransporte benutzt. Aber mit welcher Besatzung? Der vor Ort? Heißt das, die lassen ihr Auto stehen und fliegen mal schnell wohin? Bin ich der einzige, dem das in irgendeiner Art und Weise merkwürdig vorkommt.
Blaulicht an, Hirn aus: Ja, es gibt Leute bei den Hilfsorganisationen, die eine riskante Fahrweise haben. Aber so, wie das in der Serie gezeigt wird, ist das trotzdem arg überzogen.
Ich drück‘ dich: Der Hubschrauber drückt mit seinen Kufen den Transporter zur Seite, so dass das darunter eingeklemmte Transportbehältnis mit dem Spenderorgan herausgeholt werden kann („Medicopter 117“ lässt grüßen). Das ist natürlich hanebüchen und viel zu gefährlich. Außerdem hätte die Feuerwehr geeignete Mittel, so ein Auto sicher anzuheben.
Sonntags-Rede: Schließlich steht die Besatzung des Rettungswagens vor demselben und unterhält sich. Drin im Fahrzeug liegt der Patient. Wer kümmert sich um ihn?
Finaler Rettungs-Schluss: Schließlich kam die Stelle, die mich endgültig davon überzeugte, dass ich mit den Kritiken an dieser Serie nicht mehr weitermachen sollte, da ich sonst Gefahr laufe, dass mein Gehirn implodiert. Nachdem der Pilot wieder zurück ist auf der Station wird er von einer anderen Paramedic angesprochen, weil er so müde aussieht. Um ihn aufzumuntern, sagt sie folgenden Satz:
„Was Du heute geleistet hast, das hätte nicht jeder von uns geschafft!“
Was ist das für ein Binsenwahrheits-Müll? Natürlich hätte das nicht jeder von den anderen geschafft. Ich wage sogar zu behaupten, dass keiner von den anderen das geschafft hätte, weil er eben Pilot ist und als einziger einen Hubschrauber fliegen kann! Und damit kommen wir zum Ende meiner persönlichen Reihe über diese Serie und der angekündigten Einschätzung.
Ist doch einfach nur noch so ’ne Serie – ist das wirklich so schlimm?
Die Zuschauer der Science-Fiction-Serie „Babylon 5“ waren sich bewusst, dass das, was sie sehen, nicht real ist. Die Menschen haben keine Raumstation diesen Ausmaßes im All und auch keinen Kontakt zu den außerirdischen Spezies, die dort mitspielten.
Bei Serien, die irgendwie auf „real“ machen, wie eben auch Seifenopern, ist das was anderes. Es gibt genügend (und meiner Ansicht nach zu viele) Leute, die glauben Beziehungen funktionieren genau so, wie sie den Seifenopern eben nicht funktionieren. Und Serien, die wie „112…“ den Realismus fast zur Gänze vermissen lassen, verbreiten leider über das Genre, in dem sie spielen, ein gefährliches Halbwissen. Es ist zwar positiv, dass mit dem Titel die neue alte Notrufnummer 112 publik gemacht wird, der Rest jedoch wirft den Rettern in manchen Situationen mehr Steine in den Weg, als man denken mag. Beispiele gefällig? Ich habe genügend. Das Folgende habe ich entweder selbst erlebt oder aus erster Hand von Kollegen erzählt bekommen:
- Wir (Besatzung eines Rettungswagens) wurden zu einem Notfall in eine Wohnung gerufen, ein Mann sei kollabiert. Beim Eintreffen stellen wir fest, dass der Mann, etwa 75 Jahre alt, einen Herzstillstand hat. Als mein Kollege ihm das Hemd aufreißt und mit einer Herz-Druck-Massage beginnt, fällt ihm die Ehefrau in die Arme mit den Worten: „Hören Sie auf! Sie bringen ihn ja um!“ Wertvolle Zeit geht verloren, während wir die Frau davon überzeugen müssen, dass eine „richtige“ Herz-Druck-Massage nichts mit dem Brustkraulen zu tun hat, das sie aus dem Fernsehen kennt.
- Beim Brand eines Mehrfamilienshauses sind wir (Besatzung eines Rettungswagens) als erste vor Ort (in Ortschaften mit freiwilliger Feuerwehr kommt das vor, da wir schon am Standort sind und nur noch ausrücken müssen, während die Feuerwehrler erstmal zur Wache kommen müssen). Aus mehreren Fenster schlagen die Flammen. Personen sind keine mehr im Gebäude, aber in der Wohnung oberhalb des Brandes seien noch zwei Hunde. Eine Bewohnerin verlangt (!) von mir, ich solle in das Gebäude gehen und die Hunde rausholen. Als ich versuche, ihr zu erklären, dass das viel zu gefährlich ist, erwidert sie schnippisch: „Im Fernsehen tut Ihr immer so, als wärt Ihr die Helden. Aber wenn’s mal drauf ankommt, dann ist halt nichts.“
- Bei einer geringfügig außer Kontrolle geratenen Feier von ungefähr acht Jugendlichen zwischen vierzehn und siebzehn erleidet ein Fünfzehnjähriger vermutlich aufgrund seines Alkoholkonsums einen cerebralen Krampfanfall (umgangssprachlich auch „epileptischer Anfall“ genannt). Nachdem der Rettungsdienst vor Ort ist, erklärt einer der Jugendlichen, nachdem sein Freund nicht mehr reagiert und nur noch gezuckt habe, habe er bei diesem eine Herz-Druck-Massage durchgeführt. Als der Notarzt nachfragt, erklärt er seine Methode: Wie im Fernsehen gesehen, habe er sich auf den Bauch des am Boden liegenden Bewusstlosen gesetzt und mit beiden Händen beide Seiten des Brustkorbs eingedrückt. Mal ganz davon abgesehen, dass die Reanimations-Methode falsch ist, ist eine Bewusstlosigkeit an sich kein Grund, jemanden wiederzubeleben. Der Fünfzehnjährige hat die „Behandlung“ zum Glück unbeschadet überstanden.
- Bei einer Reanimation, bei der schnell feststand, dass dem Patient nicht mehr zu helfen war, wurde von Angehörigen nach Abbrechen der Maßnahmen gefragt, ob man denn nicht „mit dem Elektrodings“ (gemeint war der Defibrillator) noch was machen könnte. Den hätten wir ja gar nicht verwendet, und im Fernsehen hilft der immer.
- Zuletzt: Bei mehreren Notfällen ist es mir und auch Kollegen schon passiert, dass wir Anweisungen von Schaulustigen bekommen haben, was zu tun sei, oder warum wir dies und jenes nicht tun würden. Bei einem speziellen Fall wurde ich gefragt, warum ich der Patientin nicht „was wegen dem Blutdruck spritze“ (die Patientin war eine Leichtverletzte eines Verkehrsunfall, aber wegen des Schrecks etwas blass). Als ich darauf entgegne, dass das nicht nötig sei und ich sowieso keine Medikamente spritzen dürfe, bekomme ich zu hören: „Ja, ja, wenn Ihr nur an Euren blöden Vorschriften kleben könnt. Und ob’s den Patienten gut geht, ist Euch egal.“ Dass das Nichtbefolgen der „blöden Vorschriften“ für mich im Zweifelsfall die Konsequenz haben könnte, entlassen zu werden und nicht mehr im Rettungsdienst arbeiten zu dürfen, ist offenbar egal.
Es gab einmal eine Untersuchung über Reanimationen im Fernsehen. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass Reanimationen im Fernsehen eine Erfolgsquote von etwa 95 % haben. Und der Zuschauer erwartet das gleiche in der Realität. Aber die Realität hält dem nicht stand. Das Fernsehen vermittelt den Eindruck, egal welcher Ausgangspunkt eine Reanimation hat, in den meisten Fällen geht es gut. Dass es rein aus dramaturgischen Gründen geschieht, wird übersehen. Man fällt auf die vorgegaukelte Realität herein. Und „112…“ bietet da leider nichts neues. Keine Innovation. Nur das, was man eh schon kennt, vorhersehbare Handlungsstränge, geschrieben von Ahnungslosen, produziert von Willenlosen, aber gesehen von den Massen. In meinem ersten Beitrag zu Serie schreibt ein Kommentator, er habe gelesen, dass 89 Folgen bereits produziert seien, er rechne aber damit, dass die Serie bald abgesetzt wird. Ich fürchte, dass das nicht der Fall sein wird. Zwar ist die Serie mit weniger als 13 Prozent Marktanteil gestartet, aber die Quoten haben sich im Verlauf der ersten Folgen auf 15,6 Prozent der Zielgruppe gesteigert. Und wenn das mit den 89 Folgen stimmt, dann ist für fast 18 Wochen Material vorhanden. 18 Wochen, in denen dem Publikum demonstriert wird, wie die Arbeit von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei nicht läuft.
Ein Gegenpunkt: Die Realität
Aber ich höre schon die Stimmen: Die Realität ist doch so langweilig. In guten Geschichten muss ein Konflikt herrschen, damit sie interessant werden. Richtig – aber wer sagt denn, dass die Realität langweilig sein muss? Ich meine, das ist die Notfallrettung. Menschen in Extremsituationen. Die kann man auch interessant rüberbringen, ohne solche Münchhauseniaden zu produzieren. Stoff gibt es wahrlich genug:
- Beziehungen zerbrechen häufig an den ungewöhnlichen Arbeitszeiten und dem teilweise bis auf 48 Wochenstunden erhöhten Pensum – bei gleichzeitiger minderer Bezahlung.
- Ein anderer Grund für das Zerbrechen von Beziehungen ist, dass Menschen mit „normalen“ Berufen die Motivation für den Rettungsberuf oft nicht nachvollziehen können.
- Für Konflikte sorgen posttraumatische Belastungsstörungen nach schwerwiegenden Einsätzen, oder einer Belastungsstörung, die sich über Jahre hinweg schleichend entwickelt.
- Ein anderes Konfliktszenario: Derzeit wird darüber gestritten, wie die Ausbildung im Rettungsdienst in Zukunft aussehen soll. Als Idealvorbild steht dabei der Paramedic aus den USA, der erweiterte Befugnisse (zum Beispiel Medikamentengabe) hat. Dagegen laufen Ärzteverbände – teilweise sehr rüde – Sturm, die ihre Felle davonschwimmen sehen (oder denen ein Zacken aus der Krone bricht); auf der anderen Seite sind da die Kostenträger, die sich weigern, die Kosten für eine verbesserte Ausbildung, die dann nötig wird, zu zahlen. Mittendrin ist der Rettungsassistent, auf den die Situation zurückfällt, und zwar jedes Mal, wenn er zu einem Einsatz kommt, bei dem er denkt: Ich könnte, ich sollte – aber ich darf halt nicht.
- Und wo wir gerade von „Kostenträgern“ sprechen: Mehrfach habe ich die Rolle von Frau Doktor Driesen kritisiert, die sich ständig mit Carstens streitet. Ja, da gibt es einen Konflikt zwischen den „Leuten vom Fach“ und den „Leuten aus der Bürokratie“, aber das läuft auf einem ganz anderen Level ab, und nicht mit diesem „Mein-Schäufelchen-Dein-Förmchen-und-Du-bist-selber-doof“-Geplänkel, das einem hier geboten wird.
Was die Einsätze betrifft, auch diese sind nicht langweilig. Jeder ist irgendwie anders, und genügend davon ließen sich zu einer spannenden Episode umschreiben. Dann kann man auch auf die überkonstruierten Mehrfachsituationen verzichten (Fahrstuhl bleibt stecken UND Person kollabiert UND Fahrstuhl droht abzustürzen oder Patient mit Rauchgasvergiftung UND Kellerbrand UND explodierende Gasleitung). Wer in richtigen Einsätzen unterwegs war, der weiß, dass es das nicht braucht. Jeder Einsatz hat seine Eigenheit und sein Spannungspotential. Es gibt genügend Geschichten, sie sind da. Offenbar will sie nur keiner erzählen. Man müsste sich eben mit den Profis zusammensetzen. Aber so eine Fernsehfolge ist halt sehr viel schneller produziert, wenn die Beteiligten keine Ahnung haben.
Damit komme ich zum Ende. Wie angekündigt werde ich „112…“ nicht weiter verfolgen. Dass ich es nach der ersten Folge getan habe, war für diesen Bericht. Den habe ich hiermit abgeliefert. Ich wende mich wieder anderen Dingen zu. Dingen, die etwas erfreulicher sind. Die Seite Quotenmeter.de schreibt in ihrer Kritik über die Serie als Zusammenfassung: „Für alle Soap-Fans zu empfehlen, alle anderen Zuschauer werden nach kurzer Zeit wieder die Flucht ergreifen. Denn am Ende bleibt doch nur eine harmlose neue Endlosserie aus dem Dunstschatten der Daily-Soaps.“ Das kann ich fast so unterschreiben. „Fast“ deswegen, weil das Prädikat „harmlos“ so nicht stehenbleiben kann. Serien dieser Art sind, wie ich oben dargelegt habe, nicht „harmlos“. Aber wer weiß – vielleicht sieht das mal jemand ein und macht sich an ein völlig neues Projekt. Das würde ich mir sogar antun. Bis dahin bleibt mir nur ein verzweifelter Ausruf als Zitat zum Schluss:
„Satras hat sie gewarnt, Satras hat sie alle gewarnt! Aber niemand hört auf Satras! Armer Satras!“
(Satras in der Serie „BABYLON 5“ von J. M. Straczynski)
UPDATE: Die neueste Entwicklung von „112…“ gibt es hier: „‚112…‘ zum Vierten: Sie rettet nun keiner„. Deswegen wurde die Kommentarspalte dieses Beitrags auch geschlossen, kommentieren in Zukunft bitte beim neuen Beitrag.